Frau Arp

Weihnachten

Vorstellung trifft Realität.

Als Frau mit einem Kinderwunsch setzt das Gehirn irgendwie aus. So war das auch bei mir mit Anfang 30. Wir wussten schon nach dem ersten Kuss, dass wir Kinder haben möchten und dass dies schwierig werden würde. Ich habe schwere Endometriose. Ich liebe es, Lösungen zu finden, und unsere hieß: Adoption.

Damals hatte ich immer im Kopf, ich sei eine tolle Tante und auch noch Patentante (da muss ich mich immer wieder bei allen Patenkindern entschuldigen, denn den Job habe ich im Zuge meiner eigenen Elternschaft echt vermasselt). Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie viele hatten auch wir diese Vorstellungen, was wir mit unserem Kind anders machen würden und wie wir noch bessere und noch kreativere Lösungen finden. Eine grandiose Vorstellung davon, wie es mit Kind sein wird.

Diese superschönen Bilder mit einer kleinen Familie, wie auf Instagram. Glückliche Kinder spielen im Wald und backen Plätzchen. Sie können mit drei Jahren schreiben und Englisch sprechen und machen unser Leben vollständig.

Rückblickend sage ich mal: “Nicht im Moment gewesen, mit dem Kopf in einer Illusion gelebt und nichts ist so geworden, wie wir es erwartet haben.” Versteht mich nicht falsch, es ist großartig und schön, aber auch anstrengend und anders. Also spart euch die Erwartungen und seid gespannt auf das, was sich in jedem Moment zeigt.

Da Weihnachten naht, nehme ich euch mal mit in meine Illusion. Seht ihr es vor euch? Der Tag, an dem wir alle schön angezogen sind, es nach Braten und Plätzchen riecht und zum tausendsten Mal “Last Christmas” im Radio läuft. Es liegt Aufregung in der Luft und wir essen schön zusammen. Danach packen wir einer nach dem anderen unsere schön verpackten Geschenke aus. Oma und Opa sind da und Kerzen brennen. Seht Ihr es? Gut, dann seid ihr angekommen in meiner Vorstellung vom Heiligabend.

Tara – so ein Weihnachten haben wir als kleine Familie noch nie gefeiert. Warum nicht? Weil wir anders sind. Weil wir zulassen, dass bei uns alles auf dem Kopf steht. Wir begehen die Party der Superkräfte. Kommt unter unseren Weihnachtsbaum. Den haben wir meistens schon ein oder zwei Wochen vor Weihnachten ergattert. Das ist ein perfektes Event für uns. Wir fahren immer auf den Markt von Kaufland. Da ist ein großer Platz und wenn man sehr spät abends kommt, sind auch kaum Menschen anwesend. Immer das Gleiche gibt dem Autisten Sicherheit.

Wichtig, damit unser Supermann nicht zu viele Reize auf einmal aufnehmen muss. Baum aussuchen dauert zwei Minuten. Wir nehmen immer einen mit Charakter, das ist mein Wunsch, also schief und krumm und besonders. Ab ins Auto und nach Hause. Das ist ein Abenteuer am Tag. Mehr Aufregung brauchen wir nicht.

Wir schmücken den Baum mit allen Utensilien aus dem Angelkasten vom Supermann. Da sind Haken, kleine Gummifische und unechte Würmer – Kugeln sind bei uns out.

Go with the flow!

Klar passen Angelsachen an den Baum. Weiß doch jeder.

Achtung, jetzt die Realität. Sie ist gut, aber anders als jede Erwartung. Macht euch frei davon.

Weihnachtsmorgen, kommt noch mal in das Gefühl aus dem letzten Absatz – Mmmh … Kekse und Braten und Geschenke. Besinnlich leise klassische Musik …

Dann fängt der Heiligabend im Dunkeln an. Meistens um fünf Uhr morgens mit Geschenke auspacken und sehr starkem Kaffee für die etwas ermüdeten Eltern. Um sieben Uhr sind wir mit Frühstück und allem durch. “Mama, wann ist Silvester?”

So schnell ist Weihnachten vorbei. Die ganze Warterei, das Tage zählen, die Planung der Geschenke – eine einzige anstrengende Zeit. Und das alles für zwanzig Minuten.

Praktische Tipps:

Der Autist in unserem Supermann muss wissen, was er zu Weihnachten bekommt. Er bespricht mit uns im Oktober schon die Wunschliste, aber als vorsichtige Eltern wissen wir: Das kann sich spontan auch ändern. Also, niemals Geschenke schon im August ergattern. Wir warten bis Dezember.

Für die Superkraft FASD ist die Weihnachtszeit einfach nur anstrengend, weil nichts so ist wie im restlichen Jahr. Also kommt es vermehrt zu Überreizung, Überanstrengung und zu wenig Klarheit. Wir gehen nicht auf den Weihnachtsmarkt und nicht in irgendwelche Geschenkläden. Wir sehen uns im Internet an, was uns gefallen könnte.

Tourette. Liebliche Weihnachtsworte stehen nicht auf der Liste. Also kommt uns “Hitler” wieder besuchen und “Fick Dich” und die “Schlampe” sind auch viel häufiger zu Besuch. Das ist okay. Wir begrüßen sie herzlich und lassen sie einfach an uns vorbeiziehen. Es sind nur Worte.

Wir bekommen in den Weihnachtsferien keinen Besuch und wir fahren auch nirgendwo hin. Das ist uns einfach viel zu viel. Wir jagen mit dem Hund durch den Wald und spielen am Computer Legospiele. Die verstehe sogar ich.

Wir lieben Weihnachten, eben auf unsere eigene Art.

Adoption, FASD, Behinderung, Achtsam, Freude, Liebe