Frau Arp
Immer zu 100 Prozent
Immer zu 100 Prozent – wie geht das?
Was heißt das eigentlich für uns? Müssen wir immer wach sein oder immer alles geben? Oder geht auch mal nehmen? Oder eben nur 50 Prozent?
Autismus bedeutet für uns: Am besten immer 100 Prozent hier sein, Veränderungen vorahnen und vorausschauen, was kommt und um uns herum gerade los ist. Oder wann es auch mit weniger oder anders geht.
Heute wollten wir fliegen, mit einem Flugsimulator. Wir trauen uns noch nicht, in eine fliegende Sardinenbüchse. Wir wissen nicht, wie der Stubensturm auf beengten Raum reagieren würde, wenn er nicht aussteigen kann und fremde Menschen neben ihm sitzen, die womöglich “riechen”. Jeder, der raucht, „riecht“ und das geht in unserem Universum nicht gut.
Also gab es ein besonderes Geschenk, eines, bei dem der Stubensturm vor Freude einfach still wird, weil er so glücklich ist und es kaum aushält. Er weiß erst einen Tag vorher, dass wir diesen Ausflug machen. Die Chance, dass er vor Aufregung nicht schläft, ist riesig. Die Chance, dass er wie ein Kaninchen auf LSD den ganzen Tag hüpft, auch.
Er macht das super. Er ist megacool, überlegt, wie der Ablauf wohl ist und was er wann machen muss. “Und WANN fahren wir los? Also 16 Uhr oder 16 Uhr und 10 Minuten? Und dann auch wirklich!”
Wir nennen das “Endless Check-in”. Alles cool. Wir besprechen also alle fünf Minuten, was passieren wird, wie es da aussieht, was wir machen dürfen und wo wer sitzen wird.
Die Tics sind schon etwas heftiger geworden, aber nicht so schlimm. Es ist Corona und alle müssen eine Maske tragen, da fällt nicht auf, dass der neueste Tic, spucken ist.
Immer wieder.
Ich wäre so gerne die perfekt Mom, immer und immer zu 100 Prozent, aber ich bin manchmal eben nur ein 30- oder 99-Prozent-Mom. Heute habe ich den Fehler gemacht und im Kalender die Zeit für den Flug zwar richtig eingetragen, aber die E-Mail mit den falschen Daten ausgedruckt. Somit sind wir einfach 1,5 Stunden zu spät da.
Vor Ort ist alles cool. Der nette Pilot sagt: „Sie können ja wiederkommen.“ Wir dürfen aber schon mal schauen, wie es da aussieht.
Dann kommen wir aus dem Gebäude und wir haben mit Wut gerechnet, das ist klar, nach so einer Vorfreude und dieser monströs ungeplanten Veränderung. Aber so schlimm hatten wir das noch nie.
Der Vulkan, wie wir die Wut nennen, bricht aus. Erst brodelt es ein wenig, es wird mit Dingen geworfen und geschimpft, die Jacke weggeschmissen. Dann kommt Weinen und Schreien und sich selber hauen. Das passiert, wenn der Vulkan richtig ausbricht.
So eine Eruption hatten wir aber noch nie. So intensiv und so herzzerreißend traurig und wütend gegen uns und sich selbst.
Für einen Autisten, der Struktur, Planung und Regelmäßigkeit benötigt, damit er in dieser Welt aus 1.000.000 Eindrücken zurechtkommt, war das einfach zu viel.
Was uns hilft, ist durchatmen und mit der Wut mitgehen. Verständnis, Mitgefühl und auch akzeptieren, dass man nicht helfen kann, weil wir diejenigen sind, die es verbockt haben.
Die, die jetzt hier sitzen und zu verstehen versuchen, was wir als Elternteam besser machen werden. Denn das werden wir. Immer als Elternteam im ständigen Austausch und Weiterbildung zu dieser Superkraft.
Immer wieder kleine Schritte. Diesmal haben wir dreimal tief durchgeatmet und den Sturm über uns hinwegfegen lassen. Ja, der darf dann alles sagen, weil es ihm so wehtut.
Ja, wir stoppen bei Zerstörung und Gewalt gegen sich selbst oder andere.
Ja, wir verstehen, was in diesem Autismus-Universum alles so wehtun kann.
Das ist unsere Liebe für unseren Sohn.
Es ist nichts kaputtgegangen, er hat sich nicht wehgetan und wir haben uns eine Stunde später in den Arm genommen. Er hat reflektiert, wie böse er auf uns war und wie falsch seine Worte waren.
Das war Jack. Jack ist eben in einigen Situationen echt nicht okay. Er ist der Teil im Stubensturm, der für unkontrollierte Impulse zuständig ist, der Worte sagt, die andere nicht sagen dürfen (siehe auch: Mit Hitler im Panzermuseum). Der, den keiner wirklich kontrollieren kann.
Wir lieben ihn trotzdem, denn er gehört genau wie der Stubensturm zu unserer Familie.
Wir haben eine täglich schwankende Wetterlage. Mal scheint die Sonne und wir tanzen und dann kommt ein Schauer und es ist okay. Solche Vulkanausbrüche haben wir wirklich selten und die bringen uns an unsere Grenzen. Sie erschöpfen uns und machen traurig, auch wenn eigentlich die Sonne scheint.
Manchmal ist auch nur die falsche Salami ein Grund für ein Gewitter.
Dann finden wir einen Weg.
Wir finden immer einen Weg!
Wir sind eben einfach schräge Vögel!